Locken for Freedom
Als ich im Winter 1977 zur Welt kam, mit einem Flaum kringeliger karottenblonder Härchen auf dem Kopf, fragte mein Vater: „Das bleibt doch nicht so, oder?“ Damit meinte er, darauf haben sich meine Psychologin und ich geeinigt, jene auffällige Struwwelpeter-Vorstufe auf meinem Babyköpfchen.
Was als Kind total niiiiiiedlich war, wurde als Teen zum Krisengebiet, in dem ständig irgendein Friseur für Ruhe sorgen musste. Denn: Statt zu einer coolen „Curly“- Friese, wie sie Justin Timberlake trug, führte das Wachsenlassen bei mir zu fiesen Quetschwellen, die höchstens in der Heavy-Metal-Fanecke des Schulhofs gut angekommen wären. Nicht meine Szene. Und so begann er, mein Locken-K(r)ampf.
Fortan wurde der widerspenstige Schopf regelmäßig gestutzt, mit Glätteisen gebändigt, raspelkurz geschoren, als wollte ich einer Mönchsekte beitreten, nikotingelb blondiert und schwarz gefärbt oder mit in die Seiten rasierten Streifen geschmückt.
In der Pandemie blieb ich der Rasur bis auf die Grasnarbe zunächst treu, um die Naturkrause einigermaßen Webcam-tauglich zu erhalten. Bis ich es leid war. Und mich an Vadders Kommentar erinnerte: „Bleibt das etwa so?“ Ja, dachte ich 43 Jahre später, das bleibt. Genau so. Von einem Moment auf den anderen – Trommelwirbel und Hollywood-Geigen, bitte – schloss ich Frieden mit den Haaren, welche die Gene für mich vorgesehen hatten. Mehr noch, ich feierte sie. Ich ließ sie monatelang wachsen und nach der Wäsche knetete ich statt klebrigem Wachs bloß einen Leave-in-Conditioner hinein und ließ mein Werk lufttrocknen. Dankbar ringelten sich meine Locken plötzlich exakt so wie ich es mir früher immer gewünscht hatte. Vielleicht brauchten sie schlicht ein paar Jahrzehnte, um sich an mich zu gewöhnen.
Wenn ich heute an all die Zeit und Energie denke, die ich in ihre Oppression investiert habe, singe ich (bei geschlossenem Fenster) einen Hit meiner Jugend: „I’ve been Locken for freedom, I’ve been Locken so looooong …“
Siems Luckwaldt verantwortet die Luxus- und Lifestylethemen der Magazine Capital und Business Punk. Seit fünf Jahren übt der gebürtige Hamburger das Landleben in Schleswig-Holstein. Seiner wiederentdeckten Lockenpracht bleibt er treu.
Diese Kolumne ist so erstmals in der gedruckten Ausgabe von 30 Grad im Frühjahr 2021 erschienen.