Nordische Kombinationen
Den ersten Eindruck sollen die Gäste in den Tiefen der schwedischen Wälder gewinnen. Zwei Stunden östlich von Göteborg und 15 Minuten von der Fabrik bei Ulricehamn entfernt steht das „Lake House“. Hier beherbergt das in dritter Generation geführte Familienunternehmen Bolon Kund*innen, Journalist*innen, Geschäftspartner*innen. Ein steiniger Weg führt durch dichten Wald hinunter zum Ufer des Åsunden-Sees. Da liegt es: das klassische Schweden-Idyll. Ein schmuckes Haus mit vorgelagerter Veranda, Lichterketten in den Bäumen und einer langen weißen Tafel, die auf große Runden und laue Sommernächte wartet.
„Teil unserer Philosophie war immer, unsere Besucher auf besondere Weise willkommen zu heißen“, sagt Annica Eklund. Seit 15 Jahren leitet sie gemeinsam mit ihrer Schwester Marie das Familienunternehmen in dritter Generation. Sie hätten das von ihren Eltern so gelernt. „Wir wollen mit Menschen, mit denen wir arbeiten, eine gute Zeit verbringen – da zählt das private, das persönliche Gefühl füreinander.“
Privat fühlt man sich hier von der ersten Sekunde an – mit den Familienfotos an der Wand und einem Koch, der vorbeikommt, um das Abendessen zuzubereiten. Natürlich ist ein Besuch im Lake House nicht nur ein Kurzurlaub in geschmackvollem Ambiente, sondern auch ein ideales Intro in die Bolon-Produktwelten. Über zwei Etagen und auf fünf Zimmer und eine Küche verteilt liegt hier der aus Nylonfäden gewebte Bodenbelag, der weder wie Plastik riecht noch sich so anfühlt. Unter den Füßen wirkt er weich und robust, fast wie Leder. Das 120-Mitarbeiter-Unternehmen exportiert ihn mittlerweile in knapp 60 Länder der Welt. Insgesamt 1,2 Millionen Quadratmeter an Böden wurden im Jahr 2017 in den wenige Kilometer entfernten Fabrikhallen gewebt – und produziert wird nur, was bereits in Auftrag gegeben ist.
Mit ihrem ganz eigenen Gespür für Farben und Muster haben die Schwestern das Familienunternehmen neu erfunden. Heute beliefern sie Hotels, Konzerne und Privatkunden mit ihren Vinyl-Teppichen, die in ihrer Webung aus PVC-Bändchen an Sisalkonstruktionen erinnern und oft mit 3D-Effekten und Lichtreflektionen spielen. Berühmte Namen sind unter den Kunden, Designlegenden wie Tom Dixon zum Beispiel, Paul Smith und Giorgio Armani. Vielleicht ist Giorgio gar der wichtigste Kunde von allen – weil er einer ihrer ersten war.
Marie und Annica hatten noch nicht lange die Unternehmensführung übernommen, da reisten sie nach Italien, wo sie in einem Lookbook des italienischen Mode-Grandseigneurs zufällig ihre Kreationen entdeckten. Während ihnen zuhause in Ulricehamn insbesondere durch langjährige Mitarbeiter noch viel Skepsis entgegenschlug – Was machen die da? Können die das? –, fühlten sie sich plötzlich in ihren Visionen bestätigt: „Uns war klar: Wenn wir jemanden wie Armani gewinnen können, erreichen wir noch ganz andere Dinge“, sagt Annica.
Es ist Freitagvormittag. Nur wenige der insgesamt 15 gigantischen Webstühle sind in Betrieb. Auch die Büros sind nicht voll besetzt. In Schweden sind flexible Arbeitszeitmodelle und Teilzeitstellen eher Norm als Ausnahme. Im offenen Atelier diskutieren Annica und Marie mit einer Mitarbeiterin über leicht glitzernde Moodboards und neue Garne. Sie wollen nicht viel verraten, nur: „Gerade haben wir unseren Business-Plan für die kommenden fünf Jahre fertig gestellt. Räumlich betrachtet wandern wir weiter – von den Böden geht es aufwärts.“ Wer die Flure des Unternehmenssitzes sieht, ahnt, was sie vorhaben. Dort stehen mit typischer Bolon-Webung bespannte Hocker und Sessel.
Die Bedingung der Töchter an die Eltern war von Anfang an klar: Sollten sie die Unternehmensleitung eines Tages übernehmen, müssen sie eine komplett neue Ära einläuten dürfen. Es war Ende der 1990er-Jahre, Bolon war als Hersteller für aus Nylongarn gewebte Campingteppiche bekannt und erfolgreich. „Aber wir fanden die Branche langweilig, sahen kein Potential“, sagt Marie Eklund. Sahen sie keine Chance in der Tradition? Kopfschütteln. „Nee, nur Bürde.“
Großvater Nils-Erik Eklund hatte Bolon 1949 gegründet. In den Nachkriegsjahren war er in einer Fabrik tätig, nebenan wurden Tischdecken aus Plastik produziert. Als er beobachtete, wie viel Textilabfall dabei auf dem Müll landete, beschloss er Flickenteppiche daraus zu nähen und gründete mit Bolon wohl eines der ersten Upcycling-Unternehmen der Welt. Die zweite Generation – Annicas und Maries Eltern und begeisterte Wohnwagenfahrer – entdeckte auf ihren Reisen in den 1970er-Jahren eine Marktlücke: schöne Camping-Teppiche aus Plastik. Sie besetzten die Nische – und blieben dabei. Marie Eklund lacht: „Früher war für uns klar: Niemals würden wir in das Unternehmen einsteigen!“
Ihre Interessen galten anderen Dingen. Annica wollte als Profi-Reiterin Karriere machen, während Marie nach Italien ging, um in Florenz Mode zu studieren. Als sich die Wege der Schwestern einige Jahre später tatsächlich in der Fabrik ihrer Eltern wieder öfter kreuzten, weil beide dort kurzzeitig aushalfen, hatte der Vater das Unternehmen gerade an den heutigen Standpunkt verlagert – mit neuer Fabrikhalle, moderner Technik und der Idee, die Böden der neuen Büros mit den eigenen Campingwebungen auszulegen. Das brachte Marie, frisch diplomierte Modedesignerin, auf Ideen: „Teppiche mit Sexappeal und Rock’n’Roll, mit Eleganz und Sinnlichkeit.“ Also in jeder Hinsicht das Gegenteil von dem, was Bolon bis dahin für sie repräsentierte. „Ich begriff, dass ich meinen Sinn für Ästhetik wohl auch auf Teppiche übertragen kann“, – und auch, dass sie ihre ganz eigene Marktlücke gefunden hatte.
Es gibt Linoleum als Auslegware, PVC, Sisal und Textilteppiche – aber gewebtes, leicht zu reinigendes Vinyl in bunten Farben und modischen Mustern war neu. Heute kooperiert Bolon mit namhaften Designern und Architekten wie Rosita Missoni, dem Architekten Jean Nouvel und dem britischen Designstudio Doshi Levien. Unternehmen wie Microsoft, Google und Mercedes statten ihre Büros mit der Ware aus Urlicehamn aus. Viele der Kunden schätzen, dass die Eklunds den Ursprungsgedanken des Großvaters noch immer erfüllen – 33 Prozent ihres Textilmülls recycelt Bolon direkt in Ulricehamn selbst und entwickelt daraus die Verstärkung der Bodenbeläge. In den vergangenen Jahren haben sie über 15 Millionen Euro in die Fertigung investiert, selbst die Nylongarne werden mittlerweile vor Ort produziert. „Um ganz vorne mitspielen zu können, brauchen wir die komplette Kontrolle über alle Materialien bei uns“, sagt Annica Eklund.
Ob ihnen das renommierte Label „Made in Sweden“ auf ihrem Weg geholfen hat? „Natürlich steht schwedisches Design für Professionalität und ist weltweit beliebt“, sagt Marie Eklund. „Doch ich denke, noch entscheidender ist der Stolz, mit dem wir auf unsere Fertigung blicken und wie wir den nach außen tragen.“ Sie seien immer kämpferisch gewesen, hätten mutig und furchtlos ihre Visionen verfolgt. „Das musst du im Leben, sonst kommst du nicht weiter. Niemand anderes tut es für dich.“ Das hätten sie beim Reiten gelernt, das sei schließlich auch harte, dreckige Arbeit. Und wohl auch beim Spielen in der Einsamkeit, in den Tiefen der schwedischen Wälder.
Dieser Artikel ist zuerst in der gedruckten Ausgabe von 30 Grad im Frühjahr 2018 erschienen.