Für Mühle ist Chemnitz die nächstgrößere Stadt. Doch Chemnitz hat einen schlechten Ruf. Es gilt als hässlich und grau, und von jungen Menschen verlassen. Mit einer visionären Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025 bewiesen die Chemnitzer, dass die Stadt bereit ist für mehr. Das muss sich nur noch herumsprechen.

Wo bleibt Ihr?

Lärm von Kreissägen und Presslufthammern, laute Rufe der Arbeiter, hohe Schuttberge vor langen Bauzäunen. Jahrzehntelang hatte das 1891 als Stadtreinigungsanlage gegründete, 12.000 Quadratmeter große Areal der Stadtwirtschaft brach gelegen. Nun wird hier eifrig gewerkelt. Denn 2025 wird Chemnitz Kulturhauptstadt Europas sein. 

Als die im Südwesten Sachsens gelegene Stadt im Herbst 2020 den Zuschlag erhielt, löste das unter den Chemnitzerinnen und Chemnitzern einen wahren Euphorieschub aus. Endlich einmal nicht im Schatten der großen Schwestern Leipzig und Dresden stehen! Endlich einmal einen echten Titel gewinnen und nicht nur den der deutschen Großstadt mit den meisten Crystal-Meth-Rückständen im Abwasser. Immerhin stehen jetzt 90 Millionen Euro Budget aus Bundes- und Landesmitteln und dem Stadthaushalt zur Verfügung. 

Schnellen Schrittes läuft Grit Stillger über das Gelände. Die Projektleiterin im Stadtplanungsamt führt durch die zukünftigen Werkstätten und Ateliers. Sie klettert voran in den mit Balken gestützten Dachstuhl, in dem ein Veranstaltungsraum entsteht. Sie erklärt, wo sich die Kantine befinden wird, die dann auch die Menschen aus dem umliegenden Sonnenberg-Viertel einladen soll. Der Sonnenberg, einst Chemnitzer Elendsviertel, zieht inzwischen Studierende und Künstler an. 

Ein wahres Idyll aus Chemnitz‘ besten Zeiten: der Schlossteichpark mit seinen Skulpturen ist einen Besuch wert.
Highlight zeitgenössischer Architektur auf dem Campus der TU: Der Adolf-Ferdinand-Weinhold-Bau, 2013 vom Münchner Architekturbüro Burger Rudacs Architekten  errichtet.

Große Altbauwohnungen gibt es für wenig Geld und mit der Bar Lokomov, dem Club Nikola Tesla und der Pizzeria Augusto auch Orte zum Ausgehen. Schon ab einem Euro pro Quadratmeter werden die Räume in der Stadtwirtschaft zu haben sein. Ideale Bedingungen also für Kreative. Aber noch sind die Räume nicht gefüllt. Noch erklingt auf dem Hof nicht die Musik aufstrebender Bands. Noch hört man ausschließlich eins: Baulärm.

Grit Stillger erzählt sehr lebhaft, was hier passiert. An vielen Stellen weist sie freudig auf interessante Ideen hin, wie die, in den ehemaligen Waschräumen die ursprünglichen Armaturen und Wandfliesen zu lassen. „Die Kulturhauptstadt ist eine Chance“, sagt sie. Doch sie bringt auch viele Jahre Erfahrung mit aus einer Stadt, die es seit Jahrzehnten nicht leicht hat. „So schnell“, sagt sie, „boomt das hier bei uns nicht“. 

Eastern State of Mind

Wirft man einen detaillierten Blick auf das geplante Programm, wird schnell klar: Im Zentrum der Kulturhauptstadt steht weniger, was schon da ist – die hochkarätigen Kunstsammlungen, das Naturkunde- und das archäologische Museum – als vielmehr das, was entstehen soll. In 30 als „Interventionsflächen“ betitelten Infrastrukturprojekten, von denen die Stadtwirtschaft nur eines ist, werden ehemalige Industrieflächen und -gebäude in Kulturräume verwandelt. 

Aus Werkhallen werden Co-Working-Spaces und Ausstellungsflächen, aus Umkleide- und Waschräumen der Müllentsorgenden der Stadtwirtschaft werden Ateliers, im ehemaligen Straßenbahndepot der Chemnitzer Verkehrsbetriebe entstehen mit dem „Garagencampus“ temporär nutzbare Projekträume. So soll die Kreativwirtschaft ausgebaut werden. Es sind ehrgeizige Pläne für eine Stadt, die zwischen 1990 und 2009 fast 25 Prozent ihrer Einwohner verloren hat und jetzt 250.000 Menschen zählt. 

Als sich Chemnitz zur Europäischen Kulturhauptstadt bewarb, wollte man die strukturellen, sozialen und politischen Probleme auf keinen Fall ausblenden, sie wurden zur Grundlage der Ideenentwicklung. So heißt einer der Programmpunkte explizit: „Ansätze zum Umgang mit rechtsextremistischen Strukturen“. Denn rechtsextremistische Strukturen gibt es in Chemnitz. Spätestens seit im August 2018 nach einer Messerstecherei auf einem Stadtfest ein wütender Nazimob durch die Stadt zog, worüber sogar die „New York Times“ berichtete, weiß das die ganze Welt. 

„Die Kulturhauptstadt ist eine Chance. Aber ich bin Realistin: So schnell boomt es bei uns nicht“, sagt Grit Stillger.
DDR-Moderne vom Feinsten: Die Stadthalle mitsamt Kongresshotel stammt aus den späten 1960er-Jahren.

Die „Bid Book“ genannte Bewerbungsschrift schlägt vor, Bürgerdialog-, Partizipations- und Bildungsformate unter dem Titel „Kunst und Demokratie“ zu entwickeln. Und Veranstaltungen, die nach dem Vorbild des äußerst erfolgreichen #wirsindmehr-Konzerts vom September 2018 Diversität und Vielfalt fördern.

Den Nährboden für rechtsextreme Tendenzen, die massiven Umbrucherfahrungen, die Erfahrung des Abgehängtseins, das Gefühl „von Europa nicht gemeint zu sein“ wie es die ostdeutsche Schriftstellerin Grit Lemke in einem Interview mit der Zeitschrift „Monopol“ beschreibt, teilen die Menschen hier mit anderen Osteuropäern. Die Kulturhauptstadt könnte, so die Hoffnung vieler, diese Themen reflektieren und europäische Aufbauarbeit leisten. 

Brüche und Umbrüche sind nicht nur Teil der Biografien von Chemnitzerinnen und Chemnitzern, sie prägen auch die urbane Struktur. Und selbst an einem warmen Sommertag liegt eine gewisse Schwere über der Stadt, die überall ein bisschen zu leer wirkt. Da sind die vielen prächtigen Industriegebäude aus dem 19. Jahrhundert, als Chemnitz eine der wichtigsten Industriemetropolen Deutschlands war, ein führendes Zentrum der Textilindustrie und des Werkzeugmaschinenbaus. Da sind die Villen auf dem Kaßberg, in denen sich die reichen Bürger repräsentativ einrichteten. Ein schönes Wohnviertel, aber Lokale oder Läden gibt es kaum. Da ist die Innenstadt, nach der fast vollständigen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg im Stil der DDR-Moderne wieder aufgebaut, und da ist natürlich die 13 Meter hohe Karl-Marx-Büste, mit dem sächsischen Wort für Kopf „Nischel“ genannt. 37 Jahre lang hieß Chemnitz Karl-Marx-Stadt, um den Anspruch der DDR-Führung zu dokumentieren, aus der traditionellen Arbeiterstadt eine moderne sozialistische Vorzeigestadt zu machen. 

Kulturmanagement vom Feinsten

Vielleicht wird 2025 also ein wirklich spannendes Jahr für Chemnitz, ein Neuanfang. Wenn es gelingt, all die visionären Ideen und Pläne umzusetzen. Zuständig dafür ist die Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 GmbH, allen voran ihr Geschäftsführer Stefan Schmidtke. 

Hört man ihm eine Weile zu, wie er gestikulierend und augenbrauenzwirbelnd Anekdoten erzählt, Fakten referiert und Zweifel entkräftet, hat man danach ein ziemlich tolles Bild im Kopf. Das Bild einer lebendigen Stadt im Aufbruch. Energiegeladen läuft der 55-Jährige durchs Foyer des ehemaligen Bankgebäudes, in dem die GmbH untergebracht ist und drapiert sich fürs Foto in ein hölzernes C. Man merkt ihm an, dass er es gewohnt ist, in der Öffentlichkeit zu stehen. Der erfahrene Kulturmanager, gebürtiger Sachse, der nach dem Abitur wie viele in den Westen gegangen ist, hat schon viele Stationen hinter sich, unter anderem als Kurator Schauspiel bei den Wiener Festwochen. „In der Bewerbung stehen 72 Projekte“, erklärt er. „Aber was da drinsteht, sind Visionen. Unser Job ist es, uns da durchzuarbeiten. Zu fragen: Wer sind die Leute? Hat das Projekt ein profundes Konzept? Können Drittmittel gefunden werden? Geht rechtlich alles?“ Für so einen Job muss man bereit sein, sich auch mal unbeliebt zu machen. 

„Kulturmanagement vom Feinsten“ nennt er seine Arbeit, in der es darum geht, die vielen unterschiedlichen Akteure mit ihren unterschiedlichen Wünschen zusammenzubringen. Zumal hier viele mitmachen und mitreden wollen – nicht nur professionelle Kulturschaffende, sondern auch Gesangsvereine, Tanzgruppen, Hobbybastler. „Angreifen, zugreifen, was erfinden, auf die Beine stellen – das ist typisch Chemnitz. Los geht’s und druff. Das ist einerseits schön, weil alle mitmachen wollen, andererseits sind wir ein geordnetes EU-Projekt und müssen abwägen und auch mal etwas zurückweisen. Da befinden wir uns ständig in einem Feld des Widerstreits.“

Die Lebensqualität in Chemnitz ist hoch: Wohnraum ist günstig und dank großer Parks wie dem Schlossteichpark ist die Stadt sehr grün.
Das 1925 im Stile des Neuen Bauens von Fred Otto entworfene Stadtbad ist einer der Lieblingsorte von Stefan Schmidtke. 
Die glückliche Wahl-Chemnitzerin Katharina von Storch auf der bunten Treppe: „Ich bin hier ins Schaffen gekommen.“

Spricht man mit unterschiedlichen Akteuren der Chemnitzer Kreativszene, spürt man schnell: Hier prallen viele Befindlichkeiten aufeinander. Die Euphorie scheint verflogen. Einige beklagen, dass die mutigsten Ideen gerade auf der Strecke bleiben, dass die Vernetzung nach außen vernachlässigt wird, andere, dass die Unterstützung für Orte fehlt, die schon lange da sind. In einer Stadt, die von Industrie und Technik geprägt ist, die nie eine Kunsthochschule hatte, findet – und das ist natürlich ein Problem für eine Kulturhauptstadt – die Kulturszene nach wie vor eher im Verborgenen statt. 

„C the Unseen“ lautet daher treffend das Motto des Kulturhauptstadtprogramms. Aber es scheint einen gewissen Argwohn gegenüber den Blicken von außen zu geben. Es liegt immer der Verdacht in der Luft, von Außenstehenden geringgeschätzt zu werden – und, was noch schwerer wiegt, der Verdacht, dass diese Geringschätzung womöglich gar gerechtfertigt ist.

Die prächtigen Villen auf dem Kaßberg entstanden im 19. Jahrhundert, als Chemnitz eine reiche Industriemetropole war.
„Angreifen, zugreifen, was erfinden, auf die Beine stellen – das ist Chemnitz. Los geht’s und druff“, sagt Stefan Schmidtke.
Die Akteurinnen und Akteure der Chemnitzer Kulturszene sind nicht immer leicht zu finden. Sichere Adresse: Der Club Atomino, seit kurzem im Wirkbau, einem sanierten Fabrikgelände.

Der Blog re:marx bringt Chemnitzer Phänomene und Gemütslagen wie kaum ein anderes Medium auf den Punkt. Dort wird in diesem Zusammenhang vom Chemnitz-Paradoxon gesprochen, „einer sehr starken Hassliebe, die die Menschen in der Stadt wie ein unsichtbares Band miteinander verbindet.“ Damit die Stadt sich verändern kann, damit aus dem Kulturhauptstadtschub nachhaltig eine neue Stadtkultur erwachsen kann, braucht es Menschen, die herkommen wollen. Nicht nur kurz zu Besuch, sondern um hier zu leben, mitzugestalten. Menschen wie Katharina von Storch.

Alle können mitmachen

Die junge Frau sitzt in einer bunt geblümten Bluse auf der bunten Treppe am technischen Rathaus. Dass die Stufen seit drei Jahren aussehen wie aus Lego gebaut, ist ein weiterer Vorbote von 2025. Heute folgt von Storch ihrem kreativen Geist, sie ist hier „ins Schaffen gekommen“, und das hat sie Chemnitz zu verdanken, davon ist sie überzeugt. Weil es hier so viel Raum und Möglichkeiten gibt, etwas zu machen. Vor fünf Jahren kam die in Süddeutschland geborene und in Wiesbaden aufgewachsene Frau, die schon an vielen Orten gelebt hat, für ihr Masterstudium in die Stadt. „Hier habe ich zum ersten Mal ein Gefühl von Zuhause entwickelt“, sagt sie. Sie mag es, wie herzlich die Menschen sind, hat man einmal ihr Vertrauen gewonnen. Sie mag das viele Grün, den günstigen Wohnraum. 

Die Mitte 20-jährige Medienpsychologin arbeitet an der Entwicklung des Garagencampus mit. Raum gibt es also viel in Chemnitz. Jetzt müssen nur die Leute kommen, die ihn auch nutzen wollen, der „kreative Schwarm“, wie von Storch es nennt. „Damit der kommt, braucht es vor allem eine andere Erzählung von der Stadt“, ist sie überzeugt. Eine, die den Fokus darauf legt, was hier alles schon ganz schön gut ist.

„Es wäre so toll hier Bewegung reinzubringen“, sagt sie und schaut hinunter in Richtung Stefan-Heym-Platz, wo gegenüber der elegant geschwungenen Fassade des ehemaligen Kaufhaus Schocken ein Gebäudekomplex mit exklusiven Wohnungen entsteht. Auch die Immobiliengesellschaft bpd glaubt offenbar an die Stadt. „Hier ist wirklich verdammt viel möglich. Und das Besondere ist: Wirklich alle können mitmachen!“  

Dieser Beitrag ist Auszug der neuen, gedruckten Ausgabe von 30 Grad. Weitere Inhalte werden hier in den kommenden Wochen sukzessive veröffentlich.