Botox Talk
Vor kurzem interviewte ich einen Hamburger Schönheitschirurgen, der Mann hat seine Praxis an der Alster, seine weißgekittelte, durchgebräunte Erscheinung war makellos. Selbiges schien für mein Gesicht nicht zu gelten, denn bald erklärte der Doc, bei mir würde er – rein hypothetisch, falls ich ihn fragen würde – die Nasolabialfalten straffen, auch die Stirn könne eine Aufspritzung vertragen und sowieso strahle ich eine Erschöpftheit aus, die sich mit Hyaluronsäure aber rasch beseitigen ließe. Ich hatte nicht gefragt. Doch nun waren seine Worte in der Welt und mit ihnen die grandiose Stammtischdebatte: Muss man sich echt nicht mehr schämen, wenn man was machen lässt?
So wird es einem ja heute suggeriert von allgegenwärtigen Hautärzten und stadtweit plakatierten Chirurgen, von Menschen, die ihre perfekte Jawline auf Instagram feiern, sogar von Kolleginnen, die vor dem ersten Kaffee über Filler reden. Der Botox-Talk scheint zu einem erfüllten Leben dazuzugehören wie die Detox-Kur. Da ist es auch nur logisch, dass die Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen einen Behandlungszuwachs von 15 Prozent für das Jahr 2022 vermeldete.
Auf geheime Weise haben es diese Kittelträger geschafft, derlei Eingriffe umzudeuten zur Ermächtigungsgeste, zum Selbstwertbeweis, ja zur radikalen Selbstliebe. Wogegen sich schwerlich argumentieren lässt, schließlich möchte man niemandem absprechen, beim Blick in den Spiegel ein bisschen glücklicher sein zu wollen. Auch ein Freund von mir, normalerweise hoffnungsloser Zyniker, befand jüngst bei einem Bier: „Ist doch alles kein Problem mehr. Your body, your choice.“ Woraufhin ich Schlupflieder zählte. Sah mein Gesicht nicht aus wie ein kurioses Origami? Waren die Geheimratsecken wirklich noch so geheim, wie sie taten?
Ich habe mich letztendlich trotzdem gegen die minimalinvasive Erneuerung entschieden, denn mehr noch als vor dem Alter graut es mir davor, wieder jung sein zu müssen. Es scheint mir nämlich völlig klar, dass sich, wer wie Ende 20 aussieht, auch dementsprechend verhalten muss.
Während also all diese kindlichen Greise, all die Schönen und Verschönerten, die Twentysomethings zu wilden Partys rasen, den nächsten Triathlon laufen oder ihre ewige Pubertät in Selfies festhalten, werde ich mit Heizdecke und Kamillentee über meinem Buch eingenickt sein. Ein Mann, der endlich so alt ist, wie er sich schon lange fühlt. Ein Testimonial der Mitesser, Gesichtsfette und Augenränder. Glauben Sie mir: Auch das kann Selbstliebe sein.
Moritz Herrmann ist Reporter beim Stern. Seine Texte wurden vielfach ausgezeichnet. Seine Tante hat sich mal operieren lassen, damals, als es noch verrucht war. Sie trägt seither auf Familienfesten die berühmte Dr. Mang-Nase spazieren und sieht damit sehr gut aus.
Dieser Beitrag ist Auszug der neuen, gedruckten Ausgabe von 30 Grad. Weitere Inhalte werden hier in den kommenden Wochen sukzessive veröffentlicht.