Als seine Mutter eines Tages anrief und mitteilte, sie würde nun die alten Webstühle verkaufen, entschloss sich Mario Sierra kurzerhand, die
Textilproduktion seiner Großmutter wiederzubeleben. Ein Besuch bei Mourne Textiles in den Mourne Mountains, wo Nord- an Südirland grenzt.

Fjorde aus Stoff

Die Wolken hängen tief an diesem Morgen. Die vielen Grüntöne der Mourne Mountains sind zwar zu erkennen, doch die Meereszunge, die am Fuße der Berge Nord- von Südirland trennt, bleibt versteckt. Es ist neun Uhr in der Früh und Mario Sierra spaziert gemächlich den Berg hinab zur Werkstatt, in der um diese Uhrzeit seine Mitarbeitenden eintreffen. Sie setzen sich an die alten Holzwebstühle und beginnen die Pedalen zu treten. Früher kam der Mitte 40-Jährige in die Mournes zum Spielen, heute kommt er, um neue Pläne für sein Business zu schmieden.

Vor einigen Jahren entschloss sich Mario Sierra, die 1949 von seiner Großmutter gegründete Weberei wieder zu eröffnen. Er beschreibt seine Großmutter als starke, visionäre Frau. Die gebürtige Norwegerin und studierte Designerin Gerd Hay-Edie war durch Europa gereist, hatte in Nord-Spanien eine Weberei aufgebaut, in der Wandteppiche gefertigt wurden und war in England für verschiedene Unternehmen als Designerin tätig. Auf der Suche nach einem friedlichen Ort landete sie 1947 hier in Rostrevor mit dem Plan, ein Designstudio zu eröffnen. Da sie jedoch keine Weber für ihre Entwürfe finden konnte, beschloss sie, ihr eigener Zulieferer zu werden und gründete Mourne Textiles. Und wurde sehr erfolgreich. Der renommierte britische Möbeldesigner Robin Day nahm eines ihrer Teppichdesigns 1951 mit auf die Mailänder Triennale, so entstand eine langjährige Kooperation mit dem Möbelhersteller Hille, der auch Days berühmten Polyprop-Chair produzierte. Die irische Modedesignerin Sybil Connolly war Fan von Hay-Edies Tweed-Designs und übernahm einige in ihre Kollektion. Das Geschäft brummte. Bis Ende der 1960er-Jahre der Nordirlandkonflikt zu eskalieren drohte. „Von einem Tag auf den anderen kam niemand mehr in die Gegend. Das hier ist die Grenzregion, plötzlich war überall Militär, wir waren wie abgeschnitten“, erzählt Sierra. Zeitgleich begannen Textilunternehmen ihre Produktionen in Richtung Osten auszulagern. Irlands einst florierende Woll- und Leinenproduktion konnte der Billigkonkurrenz in Osteuropa, Indien und China nicht standhalten, ein Großteil der Produktionsstätten musste schließen. Dennoch versuchten Sierras Großmutter und seine Mutter Karen Hay-Edie den Betrieb irgendwie am Leben zu halten. In den 1980ern gaben sie auf. 

Sonnenaufgang. Hinten zu sehen: die Grenze von Nord- und Südirland mit den Städtchen Rostrevor und Warrenpoint
Typisch Mourne Textiles: die schwarz-weißen Schals sind einer der Bestseller
In den Mourne Mountains, um Pläne für sein Geschäft zu schmieden: Mario Sierra

In der Werkstatt angekommen, muss Mario Sierra zunächst Holz im Kamin nachlegen, die Heizung ist mal wieder ausgefallen. „Dies ist ein altes Haus“, sagt er. „Es ist schön, wieder so viel Zeit hier zu verbringen.“ Denn zwischenzeitlich war er in die Welt hinausgezogen. Er wollte reisen, das Leben jenseits des 2.500-Seelen Ortes kennenlernen. Er studierte Textilkunst an der Winchester School of Art, zog nach London, arbeitete als Tontechniker, gründete eine Familie. Bis ihn seine Mutter eines Nachmittags vor drei Jahren anrief. Sie verkündete, sie würde nun die Webstühle verkaufen. Sierra antwortete prompt: „Auf keinen Fall!“

Er erinnerte sich an seine Kindheit. Daran, dass die Werkstatt sein „happy place“ war, Spielplatz und Zufluchtsort. Als kleiner Junge habe er sich unter den Webstühlen am sichersten gefühlt, nicht selten übernachtete er auch dort. Und er dachte an seine Großmutter, die 1997 gestorben war. Sie hatte ihm das Weben beigebracht. Als Jugendlicher saß er manchmal tagelang an einer Decke oder einem Teppich. Wenn auch nur die geringste Kleinigkeit schief lief, sagte seine Großmutter: Noch mal von vorn! Sie verzieh keine Fehler, das würden die Kunden auch nicht tun. „Sie war die härteste Lehrerin. Und die beste“, sagt er. Er wollte unbedingt, dass dieser Ort wieder lebt, dass hier wieder Menschen sitzen und die Maschinen wieder laufen. 

Die irische Designerin Sybil Connolly verwendete die Stoffe von Großmutter Gerd Hay-Edie in ihren Kollekionen
Garne soweit das Auge reicht: die Regale in der Werkstatt von Mourne Textiles sind prall gefült
Bei Mourne Textiles kann man den ganzen Prozess verfolgen: aus der Wolle werden erst Garne dann Stoffe
In tage- bis wochenlanger Handarbeit werden
auf den alten Webstühlen Teppiche, Kissenbezüge und Schals gefertigt

Den Anfang beschreibt Sierra als eine Art Blindflug. „Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich einließ!“ Er hatte nicht damit gerechnet, wie kompliziert es sein würde, ein funktionierendes Netzwerk in der einst für Irland doch so wichtigen Textilbranche aufzubauen. „Viele der guten Akteure existieren online einfach nicht, die kann man nicht googeln.“ Er aber brauchte Antworten auf Fragen wie: Wer hat die beste Wolle, wer die besten Garne? Wo kann man fertig gewebte Stoffe waschen lassen? Welche Experten gibt es überhaupt noch und wo?

Doch er hatte auch Glück. Der Zeitpunkt der Wiedereröffnung stimmte. Altes Handwerk ist gefragt. Die wiederkehrenden Schlagzeilen über intransparente Produktionsbedingungen in der Textilindustrie steigern die Nachfrage nach fairen lokalen Produkten. Außerdem sehnen sich immer mehr Menschen neben der ständigen Arbeit vor dem Computer danach, Dinge mit den eigenen Händen herzustellen. Nicht nur in Irland interessiert man sich wieder für alte Handwerkstechniken. In den letzten Jahren sind internationale Do-It-Yourself-Portale wie Etsy entstanden, Ökomode-Labels gelten als chic. Großbritannien und Irland haben hier eine Vorreiterrolle eingenommen. Es gibt einen selbst organisierten Crafts Council, die Regierung hat den Arts Council England aufgestellt, der wiederum auch Mitveranstalter des einwöchigen London Design Festivals ist. 

Mario Sierra und seine Mutter Karen sichten die Entwurfssammlungen von Gerd Hay-Edie
Berge wie Stoffe: Die Mourne Mountains dienten Mario Sierras Großmutter als Inspiration
Eine Mitarbeitende im Gespräch mit Mario und Karen Sierra

Inzwischen pendelt Mario Sierra zwischen London und Rostrevor. In der Werkstatt mit den alten Holzböden und reichlich Patina arbeiten wieder sechs feste und drei freie Mitarbeiter. An diesem Vormittag herrscht Hochbetrieb, fast jeder der 12 bis teils über 100 Jahre alten Webstühle ist in Bewegung. In tage- bis wochenlanger Handarbeit fertigen die teils gelernten, teils eigens von Sierra ausgebildeten Weber die schwarzweiß gestreiften Teppiche und Schals, die apfelgrünen Decken und pinkfarbenen Kissenbezüge, für die Mourne Textiles inzwischen bekannt ist. „Man sieht einem Stoff einfach an, ob er von Hand gewebt ist“, sagt Sierra.

Es sind auch kleine, glückliche Fügungen wie die mit Jamie Oliver, die helfen. Der britische Koch-Star empfahl seinen Instagram-Fans, Mourne Textiles zu folgen. „Die machen tolles Zeug“, schrieb er. 6.000 neue Follower in 24 Stunden waren das Ergebnis. Sierra hält soziale Medien für enorm wichtig. 

„Ich möchte nur nicht in die Hipsterfalle tappen“, sagt er. Es geht ihm nicht darum, Hypes zu bedienen. Seine Vision für Mourne Textiles reicht über kurzlebige Trends hinaus. Gemeinsam mit seiner Mutter Karen möchte er die Techniken für all die Designs, die seine Großmutter in ihren Büchern hinterlassen hat, entschlüsseln. „Ich bin mir sicher, das wird mal wertvoll sein.“ Und er will seiner Großmutter postum zu Anerkennung verhelfen. Manchmal glaubt er, mit ihrem Talent sei sie hier in den Mournes etwas verloren gegangen. Mit ihrer Arbeit würden sie nicht nur das Werk von Gerd Hay-Edie verewigen, sondern auch seine geliebten Mourne Mountains. „Viele sagen, meine Großmutter sei hier gelandet, weil die Berge den Fjordlandschaften ihrer norwegischen Heimat ähneln“, sagt Sierra. „Ich finde ja, mit ihren vielen Farben und unterschiedlichen Oberflächen ähneln die Mournes vor allem ihren handgewebten Stoffen.“