You’ll never walk alone
Der Himmel hängt tief über der St. Michaels Road. Kleine Häuser, die schon bessere Tage gesehen haben, stehen in endloser Reihe. Mittendrin der Firmensitz der Traditionsmanufaktur Tricker’s, 1929 von Joseph Trickers gegründet, heute in fünfter Generation in Familienbesitz.
Mit den Intarsien-verzierten Glasfenstern mutet das Gebäude leicht verspielt an, 1903 hatte man andere Vorstellungen von Industriearchitektur als heute. Als die Fabrik errichtet wurde, war Tricker’s das Flaggschiff der boomenden Schuhindustrie. Ende des 19. Jahrhunderts war Northampton mit 2.000 Manufaktur-Betrieben die Schuh-Hauptstadt Europas, 100 Millionen Paar Schuhe wurden hier pro Jahr hergestellt. Mit asiatischen Billigimporten begann in den 1970er-Jahren das große Sterben, in den folgenden 20 Jahren gingen über 10.000 Jobs verloren.
Scott McKee führt über verwinkelt steile Treppen, vorbei an Regalen voller Holzleisten und aufgerollter Lederhäute und ratternden Nähmaschinen. McKee ist Meisterschuhmacher und Werksleiter, seit 23 Jahren beim Unternehmen. Mit 15 fing er an, auch sein Vater war schon Schuhmacher. Eine Biografie wie er haben hier viele. Jungs in Northampton, so heißt es, „werden mit Lederschürze geboren.“ Einige der alten Traditionsfirmen haben den Niedergang überlebt und machen heute wieder ganz gute Geschäfte, darunter Church’s, Crockett & Jones, Barker, Loake, Joseph Cheaney und eben Tricker’s – dem Heritage-Boom und der Sehnsucht nach den „guten alten Dingen“ sei dank.
Der Tricker’s-Chef Martin Mason ist in gewisser Weise der Gegenentwurf zu Scott McKee. Weltläufigkeit statt Bodenständigkeit, wechselhafte Karriere statt Sesshaftigkeit. Viele Jahre hat der Mittfünfziger – leuchtend blaue Augen, kurze graue Haare, sauber gebügeltes Hemd – für unterschiedliche Marken der Luxusindustrie gearbeitet, darunter Pringle of Scotland, Mulberry, aber auch MCM, für deren Einführung auf dem chinesischen Markt er zuständig war. Seit vier Jahren ist er CEO von Tricker’s, das erste Nicht-
Familienmitglied seit Gründung des Unternehmens.
„Sie sind an ihre Grenzen gestoßen“, erklärt Mason die Entscheidung. „Die Barltrops sind eine Familie von Schuhmachern, sie brauchten jemanden, der sich mit internationaler Vermarktung und Brandbuilding auskennt.“ Jemanden wie ihn. Der letzte Chef, Nicholas Barltrop, hat sich aus dem operativen Geschäft vollständig zurückgezogen. Die entscheidende Veränderung seither? „Als ich kam, war Tricker’s eine Fabrik, die eine Marke besaß, jetzt ist es eine Marke mit eigener Fabrik.“
Für Mason ist die Arbeit bei Tricker’s nicht irgendein Job. Er fühlt sich dem Unternehmen verbunden. „Wir haben hier ein Erbe, auf das wir wirklich stolz sind“, sagt Mason. „Unsere Produkte haben eine Seele.“
Daher hat Mason sich auch gehütet, Klassiker wie beispielsweise den „Malton“-Boot oder den „Bourton“-Brogue zu verändern oder gar einen externen Designer anzustellen. Genau diese Klassiker sind es schließlich, die neue Kunden gewinnen. Und wenn ein Paar Schuhe ein Leben lang hält und der Stil sich nicht ändert, braucht es neue Kunden. „Die große Kunst ist es“, sagt Mason, „so wenig wie möglich zu verändern. Die DNA ist ausgesprochen wichtig.“ Diese entsprechend zu kommunizieren hat er sich daher als erstes vorgenommen. Er hat den Internet-Auftritt modernisiert, eine PR-Agentur engagiert und die Social-Media-Kommunikation verbessert. 75.000 Instagram-Follower hat Tricker’s inzwischen. „Wir haben eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden.“
Gute Geschichten mögen Mason und McKee beide gern, manchmal erzählen sie sogar die gleiche unabhängig voneinander. Zum Beispiel die von den zwei Dingen, an denen ein Mann niemals sparen sollte: ein gutes Bett und ein gutes Paar Schuhe. Das habe ihm sein Vater geraten, sagt McKee. „Das hat er von mir“, widerspricht Mason.
Wer recht hat, ist im Grunde auch egal. Es geht darum, ein Image zu pflegen. Die robusten Schuhe, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch fast ausschließlich von Bauern getragen wurden, ehe der Landadel und später die Städter sie entdeckten, sind handwerkliche Spitzenklasse, die Qualität steht außer Frage. Dennoch stehen sie in weltweiter Konkurrenz, unter anderem zu Produkten mit riesigen Marketingbudgets.
Eine andere vorsichtige Veränderung, die Mason eingeführt hat, sind saisonale Kollektionen. Wo Formen und Modelle gleich bleiben, dürfen Farben und Materialien ein wenig variieren. Leder vom Kudu, einer afrikanischen Antilopenart, kommt zum Einsatz oder „Olivia“ – olivengegerbtes Leder aus Italien. Modisch ist Tricker’s aber niemals. „Auf keinen Fall“, sagt der Chef. „Es geht uns nicht um Mode, sondern um Relevanz.“
Scott McKee hat viel Arbeit im Büro zu erledigen, dennoch kehrt er zwischendurch immer wieder zu seinem Arbeitsplatz im dritten Stock zurück, wo die Maßschuhe gefertigt werden. Mit vielen kleinen Nägeln auf den Leisten gespannt, wartet hier ein halbfertiges Handwerks-Kunstwerk. In einem Regal liegen hölzerne Leisten der Stammkunden, teilweise schon seit Jahrzehnten. Beim Betrachten wird deutlich, dass Maßschuhe für einige kein Luxus sind, sondern schiere Notwendigkeit. Wer findet schon Schuhe in Größe 55? Oder für Füße, die wie Entenflossen geformt sind? Einige der Leisten wurden mit Kork angestückelt, da Füße sich im Lauf des Lebens verändern.
Mit sicheren Handgriffen zieht McKee den schweren Hammer über das Oberleder, um die Kappe des Schuhs in Form zu bringen. „Er ist ein begnadeter Schuhmacher“, sagt sein Chef anerkennend über ihn. Es kommt sogar vor, dass er bei Vorführungen in Japan oder auf der Männermodemesse Pitti Uomo in Florenz um Autogramme gebeten wird. Hier oben über den Dächern der Stadt sieht man kein Werkzeug und keinen Arbeitsgang, den man vor 150 Jahren nicht genau so hätte beobachten können.
In den unteren Stockwerken des Gebäudes geht es etwas weniger romantisch zu. Das liegt schon allein an der Geräuschkulisse. Diverse Radios dröhnen mit den ratternden Maschinen um die Wette. Was bei den Maßschuhen von Hand gemacht wird, erledigt hier eine Maschine mit einem einzigen dampfenden Zischen. Was nicht heißt, dass es sich nicht um ausgesprochen sorgfältige Verarbeitung handelt. So oder so stecken in jedem Paar Tricker’s 260 Handgriffe.
Ist der Oberschuh in Form gebracht, kommt er in eine Schutzhülle, damit er während der Weiterverarbeitung nicht leidet. Dann folgt der entscheidende Arbeitsschritt, der billige Schuhe von hochwertigen unterscheidet: Der Oberschuh wird auf einen Rahmen, also einen stabilen Lederstreifen genäht. Dieser bildet dann das Verbindungsstück zur Sohle. Das macht den Schuh stabil und ermöglicht, dass er auch nach Jahren noch auseinander genommen und Einzelteile ersetzt werden können. Eine Maschine für dieses Verfahren ließ Charles Goodyear patentieren, weshalb es auch „Good- year welt“ heißt.
Zum Schluss wird der Absatz angenäht, bei einigen Modellen fehlt an der Innenseite eine kleine Ecke, der so genannte „Gentlemens Corner“, der verhindert, dass der gepflegte Herr beim Überschlagen der Beine mit dem Absatz am Hosenbein hängen bleibt. Schließlich werden die Schuhe poliert – vier Paar schafft eine Arbeiterin pro Tag – und in blaue Schachteln verpackt. Für Maßschuhe ist diese mit Samt ausgeschlagen. „Ich nenne sie die sexy box“, sagt McKee und grinst.
Etwa 1.000 Paar Schuhe werden pro Woche produziert, 400 bis 500 Pfund, das sind 450 bis 580 Euro, kostet ein Paar. Für Maßschuhe, von denen nur drei bis fünf Paare pro Woche gefertigt werden, muss man 2.500 bis 3.000 Pfund bezahlen. 80 Prozent der Produktion wird exportiert – mit 25 Prozent deutlich größter Markt ist Japan – China und Korea wachsen stark.
Dieses Jahr wird das 190-jährige Bestehen der Firma gefeiert und zu tun gibt es noch genug, sagt Mason. Sein Engagement hier sei auf Dauer angelegt, erst kürzlich hat er sich ein Haus in der Gegend gekauft: „Tricker’s ist immer noch ein bisschen ein Geheimtipp. Man wird nicht als Tricker’s-Mann geboren, aber wer einmal einer ist, der bleibt es für immer.“
Dieser Beitrag ist zuerst im Frühjahr 2019 in der gedruckten Ausgabe von 30 Grad erschienen.