Becher aus Kaffeesatz, Tische aus Wolle, Stühle aus recycelten Kühlschränken. In jüngster Zeit entstehen jede Menge neuer innovativer Werkstoffe, die vor allem besser als ihre Vorgänger sein sollen. Wir wollen von Nachhaltigkeitsexpertin Anna Schunck wissen: Sind sie das? Und brauchen wir die?

Material neu denken

Text: Anna Schunck

Als mir Julian Nachtigall-Lechner 2015 zum ersten Mal von seiner Idee erzählt, bin ich begeistert: Tassen aus recyceltem Kaffeesatz herstellen. Macht so viel Sinn! Schließlich wird weltweit nichts so gerne und häufig getrunken wie Kaffee. Und von jedem aufgebrühten Schluck bleibt Abfall übrig. Genau das demonstriert der Berliner Produktdesigner mit seinen mittlerweile in fast jedem Coffeeshop und Concept-Store der Nation erhältlichen, strukturierten und so wohl in der Hand liegenden Bechern. „Kaffeeform“, wie Nachtigall-Lechners Unternehmen heißt, war für mich damals eine intelligente Erinnerung an das Müllproblem unserer Gesellschaft. Heute sind neue, nachhaltige Materialien mehr: Sie sind eine Notwendigkeit. 

Weil unsere Abfallberge uns die Luft zum Atmen nehmen. Klingt hart, ist aber so: Im wahrsten Sinne des Wortes. Seit der Veröffentlichung einer WWF-Studie im Jahr 2019 wissen wir, dass wir jede Woche unbemerkt Mikroplastik in der Menge einer Kreditkarte zu uns nehmen. Vor allem über die Lunge. Die Folgen: Entzündungen in Darm und Leber, Begünstigung von Krebs. Jedes Stück Plastik, das seit der Erfindung synthetischer Kunststoffe Mitte des 20. Jahrhunderts hergestellt wurde, existiert in irgendeiner Form bis heute. Produziert wird trotzdem immer mehr. Rund 38 Kilo verbraucht jeder Mensch in Deutschland im Durchschnitt pro Kopf pro Jahr.

Aus diesem Material werden u.a. Mehrweg-Kaffeebecher mitsamt Deckel gefertigt: Das Berliner Unternehmen Kaffeeform recycelt Kaffeesatz und fertigt daraus Produkte, die es im eigenen Shop verkauft.
Das in Devon ansässige Unternehmen Solidwool fertigt Stühle aus Herdrick-Wolle, eine qualitativ hochwertige Wolle, die heute als preisgünstigste im Vereinigten Königreich gilt und sonst wenige Abnehmer findet.

Wahrheiten, die die meisten von uns genauso gerne verdrängen, wie die Unvergänglichkeit des Materials. Kein Wunder! So allgegenwärtig, wie Plastik nun mal ist, so selbstverständlich, wie es von Industrie und Handel genutzt wird. Denn was sollen wir tun, wenn es die Tomaten wieder nur darin verpackt gibt? Uns schämen, dass wir sie trotzdem kaufen? Ich sage: Bitte nicht! Because we are living in a material world – und wir kaufen, was wir können, weil wir es können. Und à propos keine losen Tomaten: teils sogar müssen. In der Selbstverständlichkeit des Angebots können wir gar nicht ständig darüber nachdenken, dass fast alles, was wir so benutzen, in langen aufwändigen Prozessen industriell hergestellt werden muss. 

Leider sind die meisten gängigen Materialien schon in der Herstellung echte Ressourcenfresser. Plastik besteht aus Erdöl, Beton aus Ton und Kalkstein, Leder aus Tierhäuten. Bis die jeweiligen Werkstoffe fertig sind, werden Unmengen an Energie verbraucht, die wiederum selbst meist aus nicht regenerativen Quellen kommt und nicht endlos vorhanden ist. Dazu Wasser und chemische Zusätze, die Böden auslaugen, auf denen eigentlich auch neue, bessere Rohstoffe wachsen könnten. Klingt erstmal nach ernüchternder Endlosschleife. Kann aber auch zum Umdenken anregen. Denn es geht ja anders! Und ganz langsam sind bessere Alternativen endlich auf dem Vormarsch. 

Besser bedeutet grob gesagt: Die Materialien werden mit möglichst wenig Energieaufwand, pestizidfrei und vegan produziert, und bestehen aus regenerativen Rohstoffen, deren Überreste wir am Ende auch wirklich wieder loswerden. Oder idealerweise immer weiter nutzen können. Immer öfter wird mittlerweile aus Abfall Neues. So wie eben aus Kaffeesatz Becher werden, wird aus Hundeunterwolle, wie sie in Millionen Haushalten nach dem Kämmen des Haustiers sonst weggeworfen wird, neues Garn, oder aus Kartoffelresten Kunststoff. Kreislaufwirtschaft ist das Stichwort, das wir uns für die Zukunft merken sollten. Alles, was nach dem ersten Gebrauchszyklus mechanisch recycelt und komplett wieder zu frischem Material werden kann, ist gut. Und sollte, nein, muss unbedingt noch mehr werden!

Erkannt haben das mittlerweile nicht nur Wissenschaft und Forschung, sondern auch Brands und Unternehmen, die oft eng mit Materialentwickler*innen zusammenarbeiten – und gute neue Materialien schnell für viele verfügbar machen können. Das ist toll. Auch, dass die Bundesregierung die Forschung dazu zunehmend fördert. Bleibt die Frage, die uns alle beschäftigt: Reicht das aus? Meine Antwort: Geht es um die Regeneration unseres Planeten, reicht es eigentlich nie. Dafür sind wir einfach schon zu weit gegangen. Die Umkehr müsste drastisch ausfallen.

Wir müssen nicht nur hin zu neuen Materialien, wir müssen weg vom Überkonsum. Nötig wäre ein systemischer Wandel. Der braucht Zeit und kann nicht von Einzelnen allein angetrieben werden. Es bräuchte grundlegende politisch gesteuerte Umstrukturierungen. Was nicht heißt, dass nicht jede und jeder von uns auch den eigenen Konsum hinterfragen sollte. Vor allem, wenn es um den Lebenszyklus unserer Produkte geht. Wer gut auswählt, pflegt, repariert, bewahrt und weitergibt, muss sich die Materialfrage im Kleinen erstmal gar nicht stellen. Und wer nicht kauft, um wegzuwerfen, hat in der Wegwerfgesellschaft, in der wir leben, schon selbst einen innovativen Schritt gemacht. 

Dürfen wir vorstellen?

Es wird geforscht, probiert, lanciert: Neue, innovative Materialien strömen auf den Markt, dahinter stehen Forschungslabore, Universitäten, Unternehmen. Hier stellen wir eine kleine Auswahl vor.

Text: Franziska Klün

Zum Beispiel im Luma Tower des berühmten Architekten Frank Gehry in Arles kamen die Paneele aus dem Salz der Camargue schon zum Einsatz: Über zehn Mitarbeiter suchen hier nevinach lokalen Ressourcen, um neue, weniger umweltbelastende Materialien zu entwickeln. Einige kamen im Gehry-Turm zum Einsatz, wie die Paneele aus dem Salz der Camargue.

 Wandpaneele aus Salz

Dieses Forschungslabor sollte man sich unbedingt merken: Das Atelier Luma im südfranzösischen Arles. Als Teil des gigantischen Kunstprojekts Luma Arles der Roche-Erbin Maja Hoffmann untersucht hier ein interdisziplinäres Team aus den Bereichen Biologie, Soziologie, Design und Technik, wie man aus lokalen Ressourcen und mithilfe regionaler Handwerkstechniken neue, weniger umweltbelastende Materialien produzieren kann. 

Jüngst wurden die Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre vorgestellt: farbenprächtige Akustikplatten aus Sonnenblumenstängeln, Wandpaneele und Türklinken aus Meersalz, stapelbare Sitzkissen aus Bioplastik auf Algenbasis, Teppiche aus Palmwedeln. Sie alle zeigen, wie spektakulär schön ökologische Material-Alternativen anmuten können. Denn denen haftet ja – und manchmal auch zu Recht – noch immer das Image an, die ästhetisch schlechtere Wahl zu sein. Was aus Arles stammt, ist in jedem Fall durchweg erste Liga.

Mehr über Atelier Luma

Sehen nicht nur gut aus, kann man auch gut drauf sitzen – die Hocker vom Forschungslabor Luma Arles bestehen aus einem vollständig biologisch abbaubaren Biokunststoff auf Basis von Mikroalgen.

Oberflächen aus Birkenrinde

Für Mühle war die Entwicklung der Manufaktur Nevi aus Görlitz sofort interessant: Diese fertigt wasserabweisende, robuste und damit auch für die Griffe von Rasierpinseln geeignete Oberflächen aus der Rinde nordischer Birken. Über Jahrtausende hatte die Birkenrinde einen ähnlichen technischen Stellenwert wie Kunststoffe heute. Nevi-CEO Tim Mergelsberg entdeckte das uralte Handwerk der Rindenverarbeitung 2005 in Sibirien und beschloss, dieses wiederzubeleben und an die heutigen Anforderungen der Bau- und Designbranche anzupassen. 

Können nicht nur Wandornamente wie diese aus Birkenrinde herstellen: die Manufaktur Nevi fertigt ganz unterschiedliche, robuste Oberflächen aus dem Holz.

Für Fußböden, Wandverkleidungen oder Griffe jeglicher Art lässt sich der pflegeleichte Birkenrindenkork verwenden. Für die Herstellung werden einmal im Jahr die Rinden von den im Anschluss weiter lebenden Birken händisch entfernt. Diese werden dann gepresst, sortiert, gereinigt, beschnitten, geschichtet und in einem patentierten Verfahren weiterverarbeitet. Das Material kommt bei Mühle in der Serie Rocca zum Einsatz.

Mehr über Nevi

Bei der nachhaltigen Modemarke Armed Angels ist ein großer Teil der Kollektion aus dem aus Lyocellfaser gefertigten Material.
Von feiner Unterwäsche bis zu Bettbezügen lässt sich alles aus dem umweltschonenden, robusten Material fertigen.

Kleidung aus Holz

Kennen Sie Tencel? Das Material aus der so genannten Lyocellfaser wurde bereits in den 1990ern entwickelt und ist so etwas wie der Klassiker unter den innovativen Textilfasern. Fast-Fashion-Ketten wie H&M nutzen Tencel genauso wie nachhaltige Brands, zum Beispiel Armed Angels. Im Vergleich zu anderen Textilien bringt Tencel in puncto Nachhaltigkeit jede Menge Vorteile mit. Allen voran: Die Fasern werden aus Hölzern von in Europa heimischen Bäumen wie Fichten, Buchen oder Eukalyptus hergestellt. Für die Forstwirtschaft braucht es weder künstliche Bewässerung noch Pestizide oder Düngemittel, die Bäume wachsen größtenteils auf Flächen, die für den Ackerbau ungeeignet sind. Und: Der Großteil der von europäischen Marken verwendeten Tencel-Stoffe wird aus europäischem Holz im Haupt-Firmensitz in Österreich gefertigt und beansprucht insofern – beispielsweise im Gegensatz zu Baumwolle – nur kurze Transportwege. Ist ein Produkt wirklich zu 100 Prozent aus Tencel hergestellt, ist es auch zu 100 Prozent biologisch abbaubar. Bei all den Vorteilen bleibt allerdings ein Kritikpunkt: Natürlich ist auch Holz ein endlicher, wertvoller Rohstoff, wie vielen von uns in Zeiten von krankenden Wäldern und Waldbränden schmerzhaft bewusst ist.

Mehr über Tencel

Kommt aus dem 3D Drucker, besteht zu 100 Prozent aus den Innenteilen recycelter Kühlschränke: der Chubby Chair von Dirk van der Kooij

Kunst aus Plastikmüll

Schon als Kind war Dirk van der Kooij von Plastik fasziniert. In seinem Studium begann der niederländische Designer, der heute für die Skulpturalität seiner Entwürfe bekannt ist, mit dem Recycling von Plastik zu experimentieren. Eines seiner ersten Objekte war der so genannte Chubby Chair. Ein Stuhl aus 100 Prozent recyceltem Kunststoff, der aussieht wie ein überdimensionaler Kinderstuhl. 

Der Clou: Produziert wird Chubby mit einem 3D-Drucker aus den geschmolzenen Innenteilen ausrangierter Kühlschränke. Ganz im Sinne der Nachhaltigkeit ist die Kundschaft van der Kooijs dazu angehalten, für die Fertigung des eigenen Möbelstückes auch den eigenen Plastikmüll mit ins Studio des Designers zu bringen. Für die Produktidentifaktion hilft das natürlich auch.

Mehr über Dirk van der Kooij